An(ge)dacht
von Anna Lena Schwarz | Juni 2025
DER STAMMBAUM JESU
Liebe Gemeinde,
haben Sie sich den Stammbaum – oder fachlich korrekter: die Genealogie – Jesu in Matthäus 1 schon einmal genauer angesehen?
Genealogien sind keinesfalls eine Seltenheit in der biblischen Schrift. Wir finden sie z.B. mehrmals im 1. Buch Mose, aber auch in anderen Büchern der Bibel. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich habe Genealogien bei der Schriftlektüre bisher oft übersprungen: viele komplizierte Männernamen, langweilig, uninteressant für den Verlauf der Erzählung. Dabei haben diese scheinbar unbedeutenden Abschnitte durchaus wichtige Funktionen:
Sie schaffen und erklären z.B. menschliche Identität, indem sie auf Fragen wie „Woher kommen wir?“ und damit auch „Wer sind wir?“ antworten. Sie begründen menschliche Autoritätsansprüche oder die Bedeutung einzelner Personen aufgrund ihrer Herkunft. Und sie beinhalten auch theologische Aussagen. Das merkt man nicht nur, aber eben auch, an der jesuanischen Genealogie in Matthäus 1.
Aufgrund der gebotenen Kürze möchte ich dabei einen besonderen Aspekt aus der Vielfalt von möglichen Perspektiven herausgreifen: Ist Ihnen aufgefallen, dass Jesu Stammbaum – im Gegensatz zu allen anderen Beispielen in der Bibel – „keine reine Männersache“ ist? Neben seiner Mutter Maria erhalten vier weitere Frauen einen Platz in seiner Herkunftslinie: es sind Tamar, Rahab, Ruth und „die Frau des Uria“ (Batseba). Aber nicht nur ihr Geschlecht eint sie. Alle vier gelten auch als Nichtjüdinnen mit teilweise unklarer Abstammung. Und alle vier umgeben Geschichten mit sexuellen Inhalten. Es ist deshalb – auch aufgrund eines problematischen Bildes von Weiblichkeit und Sexualität – naheliegend, dass die Alte Kirche diese Frauen lange Zeit ausschließlich als bedürftige Sünderinnen gezeichnet hat, derer sich Christus erbarmt. Diese Deutung ist allerdings mit Blick auf die biblische Darstellung dieser Frauen – die Betonung ihrer Rechtfertigung, ihres Muts und ihrer Unschuld mindestens fragwürdig. Auch deshalb gehen heutige Auslegungen andere Wege: Die nicht-israelitische Herkunft dieser Frauen könnte z.B. darauf verweisen, dass das Evangelium Christi nicht nur Jüdinnen und Juden, sondern auch Heidinnen und Heiden einschließt. Gut für uns, oder?
Und auch die außergewöhnliche Initiative dieser Frauen wird betont: sie fordern ihre Rechte ein, stehen zu ihren Überzeugungen, tun Ungewöhnliches, sprengen die Normalität, behaupten sich in einer männerzentrierten Welt, sind Teil von Gottes Heilsgeschichte mit seinem Volk:
„Ohne Tamar wäre die Juda-Sippe bedeutungslos geblieben, ohne Rahab wäre der Exodus in den moabitischen Bergen verendet, ohne die Moabiterin Ruth wäre die Familiengeschichte Judas nicht bis David gekommen, und ohne Batsebas Tun wäre die Königsnachfolge Davids anders verlaufen.“ Vielleicht ermutigen uns die Frauen in Jesu Genealogie also dazu, Gottes Handeln auch auf ungewöhnlichen Wegen zu vermuten, Gottes Reich nicht mit den Strukturen und Hierarchien dieser Welt gleichzusetzen und Gottes Urteil nicht mit unseren Vorstellungen von Moral und vom Wert eines Menschen zu verwechseln.
Diese Frauen rufen uns zu: Schaut genau hin und hört genau zu! Dieser Gott handelt auch dort, wo ihr es nicht vermutet. Er redet auch dort, wo ihr es für „unwürdig“ haltet. Er befähigt auch und gerade die Unterdrückten und Herabgewürdigten dieser Gesellschaft, macht sie zu aktiven Teilhaberinnen und zentralen Akteuren in seiner Geschichte mit den Menschen. Gott will Gefallene aufrichten, Entrechtete zu ihrem Recht bringen und Außenseiter zum Teil der Gemeinschaft machen.
Vielleicht sind jetzt auch Sie ermutigt, genau(er) hinzuschauen, hinzuhören und vielleicht sogar mit anzupacken?
Ich bin es auf jeden Fall!
Ihre Anna Lena Schwarz
(Doktorandin in Systematischer Theologie an der Universität Siegen)